Gefährliche Hunde - Was ist verhaltensbiologisch darunter zu verstehen?

Von Dr. rer. nat. Barbara Wardeck-Mohr

Es gibt wohl kaum ein Thema, über welches häufig – meist emotional diktiert – und fachlich unsachlich so vehement diskutiert wird, wie über das Thema „Gefährliche Hunde“- kaum ein Thema, das derart die Gemüter mit wilden Spekulationen erhitzt.

Einleitung

Zunächst ist es notwendig, Grundzüge zum Aggressions- und Angstverhalten von Hunden verstehen zu lernen:

Hundliches Normalverhalten ist keinesfalls zufällig, sondern hat den Auftrag, streng determinierte biologische Zielsetzungen zu erfüllen.
Um das individuelle Verhalten von Hunden verstehen zu können, ist es erforderlich die Komplexität von dabei relevanten Faktoren zu berücksichtigen, die sich verhaltensgebend wie bei einem Uhrwerk ineinander verzahnen! Und erst wenn klar ist, was denn eigentlich hundliches Normalverhalten darstellt, können z. B. Formen von Angst oder Aggression überhaupt eine Bewertung erfahren. Hervorzuheben ist, daß es wissenschaftlich unzählige Definitionen zum Aggressionen gibt, aber keine einheitlichen Standards oder Meßverfahren um diese valide und einheitlich zu bewerten!

Dabei ist es ebenfalls erforderlich die verschiedenen Funktionskreisen von hundlichem ( Normal-)Verhalten zu begreifen.

Eine Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex ist auch deshalb besonders wichtig, da gezeigte Stress- und Angstsignale über das Ausdrucks-verhalten von Hunden gesellschaftlich nur selten erkannt respektive keine besondere Beachtung geschenkt werden!

Hervorzuheben ist:

Auch Furcht, Angst und Aggressionsformen oder submissive Gestik erfüllen Aufgaben. Diese gilt es über graduelle Abstufungen in den Verhaltenssequenzen bei Hunden und verschiedenen Kontexten zu verstehen. Dies gilt auch für Fehlentwicklungen: Denn diese weisen z. B. auf eine gestörte Junghundeentwicklung hin mit Deprivationserscheinungen und/ oder auf eine Disharmonie im Mensch-Hund-Team , die es zu ändern gilt, da diese ansonsten zu schwerwiegenden Folgen für Hund und Mensch führen.

Funktionskreise

Um das Verhalten von Hunden zu verstehen, unterscheiden wir verschiedene Funktionskreise:

1. Ernährungsverhalten

Nahrungserwerb, wie z. B. der Milchtritt, das Pföteln, Lecken, Futtersuche oder Futterbetteln, das Suchpendeln, Schnauzenstoßen, aber auch das Anschleichen, Verfolgen, Angreifen oder Töten gehören hierzu.
Das Ernährungsverhalten wird weiterhin unterschieden in: Nahrungsaufnahme mit beschnuppern, betasten, lecken, trinken, schlucken, dem Transport von Nahrung mit Futteraufnahme, dem Schleppen von Futter, (vorläufig) runterschlucken, späterem Hervorwürgen oder der Futteraufbewahrung, z.B. in einem Versteck.

2. Ausscheidungsverhalten

Dies zeigt sich u.a. über geeignete Lokalität aufsuchen, urinieren, riechen, Kreisgehen, koten oder verscharren.

3. Sozialverhalten

a) Verhalten bei Geburt und Aufzucht: Graben, respektive Herrichten eines Wurflagers, die Welpen abnabeln und trockenlegen, dem Kontaktliegen und dem Austausch von Schnauzenzärtlichkeiten.

b) Infantilverhalten mit Nahrungsaufnahme und Exploration, wie Mundwinkellecken, saugen, Milchtritt, Suchpendeln, aber auch Tragstarre oder Kopfverstecken.

c) Spielverhalten, wie ein Spielgesicht aufsetzen, pföteln, Taxierstellung, hopsen, anspringen, spielbeissen.

d) Freundliche Stimmung kommunizieren:
Umeinanderlaufen, drängeln, sich dicht aneinander drängen.

e) Neutrale Stimmung kommunizieren, wie (sich) belecken, Schnauzenkontakt, laufen bzw. hintereinander gehen oder nebeneinander her.

f) Imponieren, wie z. B. über hölzerne Gangart, Haltung und Rute aufrecht, meist Blick am Gegenüber vorbei, auch mit T-Stellung, betontes Wegschauen.

g) Verhalten von Unterwürfigkeit und Demut über angelegte Ohren, welpisch glattgezogenem Gesicht und mit sich kleiner machen, Blickvermeidung, Schwanzhaltung eher niedrig, aber oft heftigem (beschwichtigender) Rutenschalg. Dies ist auch abhängig von der Anatomie der Rute eines Hundes.

h) Aggressionsverhalten als Teil des Sozialverhaltens, z. B. über Zähneblecken, Nackenhaare aufstellen, Starrblick aufsetzen. Knurren, anrempeln, in die Luft beissen bis zum Beschädigungskampf im Ernstfall!

Gut sozialisierte Hunde zeigen über sechs Eskalationsstufen ein nuanciertes Aggressionspotential – und Aggressionsverhalten bis zum Ernstkampf.

4. Sexualverhalten

Dies zeigt sich über (penetrantes) Folgelaufen, Urin- und Genitalbereich beriechen, Genitallecken, herandrängeln und sich präsentieren, Pfote auf den Rücken legen, Aufreitversuche und/oder aufspringen.

5. Explorationsverhalten

a) Auch mit Feindvermeidung oder Nahorientierungsverhalten zur Exploration der Lage, wie Objekte beschnuppern, Bodenwitterung aufnehmen, belecken, betasten, Hals lang machen etwas stossen oder anstossen.

b) Fernorientierungsverhalten, z. B. wenn Hunde, auf dem Boden liegend oder stehend (meist intensiv) beobachten, Ohren spitzen, vorstehen oder mit differenziertem Lautäußerungen, den Kopf schräg halten und/oder einen exponierten Beobachtungsplatz einnehmen

c) Feindvermeidung über Flucht- und Meideverhalten: Hunde halten Abstand, schrecken zurück, flüchten, Harnmarkieren, drücken sich in eine Ecke oder unter den Tisch, können dabei auch Stress-Symptome zeigen.

6. Komfortverhalten

Dies zeigt sich über ein Sich-schütteln, Sich-beknabbern, lecken und wälzen, Sich-strecken, die Schnauze reiben oder Sich-kratzen oder eine ausgedehnte Fellpflege.

7. Ausruhverhalten

Dazu gehören das Gähnen, stehen, sich setzen oder niederlegen, oft zuvor auch mit Kreistreten oder schlafen.

8. Agonistisches Verhalten

Droh- Kampf- und Fluchtverhalten, Drohverhalten mit Offensiv- und Defensivdrohen sowie Distanzdrohen.

Beispiele hierfür sind: Drohfixieren, Anstarren des Gegenübers, Zähneblecken mit und ohne Maulaufreissen, Nackenhaare aufstellen. Beim Offensivdrohen ist der Kopf leicht nach vorne gestreckt – manchmal auch waagerecht. Der Mundwinkel zeigt eine kurze und runde Öffnung, beim Defensivdrohen hingegen ist die Stellung spitz und langgezogen.

Die sechs Eskalationsstufen bis zum Ernst-Kampfverhalten, auszugsweise (nach Dorit Feddersen-Petersen):

1. Distanzdrohen, Zähneblecken
2. Distanzunterschreitung, Abwehrschnappen
3. Drohen mit Körperkontakt, über die Schnauze beissen
4. Queraufreiten, Runterdrücken
5. Anrempeln, gehemmte Beschädigung
6. Beissen, Beisschütteln, Töten

WAS aber nun sind „gefährliche Hunde“ und wie erkennt man sie ?

Dabei ist zwingend zu unterscheiden zwischen:

1. sogenannten vermutet gefährlichen Hunden
2. Hunde, die aufgrund von sinnvollem und „überlebensnotwendigem“ verhaltensbiologischen Inventar in jenen Situationen zubeissen, in denen sie sich oder ihren Halter in äußerster Bedrängnis und zur Verteidigung veranlaßt sehen oder dann, wenn ihre Ausdruckssignale, wie z. B. „Halte Abstand!“ ignoriert werden. Bereits Konrad Lorenz wies vor über 50 Jahren auf diese Zusammen-hänge hin in seiner Veröffentlichung: „Das sogenannte Böse“.

Dabei hob er auch hervor, daß Aggressivität als normales sinnvolles verhaltensbiologisches Inventar zu begreifen ist.

Anmerkung:
Wie kommen Menschen immer wieder auf die Idee, daß Hunde kein Interesse am eigenen Überleben haben , z. B. wenn sie in schwerster Form provoziert und genötigt werden? Dies z. B. sogar auch bei behördlich angeordneten Wesenstests bei Hunden, die häufig nur tierschutzrelevant und ein Fall für den Staatsanwalt sind.

Hingegen versagen dies Tests aber völlig darin, nämlich zu klären und testen, was zu testen ist, ob ein Hund ein unkontrolliertes und inadäquates Aggressionsverhalten zeigt.

3. Temporäre Gefährlichkeit eines Hundes, z.B. über schmerzbedingte Aggressionen, hormonelle Dysfunktionen ( Schilddrüse) oder limbische Epilepsie u.a. gesundheitliche Probleme. Statistisch gesehen, stehen etwa 40 % der unvermittelt auftretenden Beißvorfälle mit gesundheitlichen Problemen im Zusammenhang.

4.Faktisch gefährliche Hunde

Bei faktisch und erwiesenermaßen gefährlichen Hunden liegen meist sehr vielfältige und unterschiedliche Genesen (Entstehungszusammenhänge) zugrunde. Diese Zusammenhänge sind stets individuell und bezogen auf eine einzelne Hundepersönlichkeit. Hauptursachen hierfür sind, z.B.:

Schwerwiegende Fehlentwicklungen und Fehlprägungen in der Junghundeentwicklung, wozu auch Isolation und Reizentzug , (Deprivation) oder aversive, d.h. gewaltsame Haltungs-und Ausbildungsbedingungen bzw. -Fehler zu zählen sind.

Ebenso Tiere, deren Leben von Angst und Unsicherheit, Stress und verhaltensbiologischen Einschränkungen gekennzeichnet ist. Dazu gehören auch Hunde aus sog. „Hundefabriken“, die in der sensiblen Phase für eine notwendige „Lebensschule“ weder eine Sozialisation gegen über Artgenossen noch gegenüber Menschen erlernen konnten. Also mit gänzlich gestörter Individualontogenese – ohne Erfahrungen aus Sozialspiel und Kommunikation mit anderen oder auch ohne die Erfahrung, wie Konflikte kommunikativ gelöst werden können.

Dies führt zwangsläufig zu unangemessener, übersteigerter und unkontrollierter Aggression mit inadäqutem Angriffs-und/oder Abwehrverhalten zur jeweiligen Situation. Nicht zuletzt aus Unsicherheit und Angst!

Dies trifft auch auf die allermeisten restriktiv und isoliert in Zwingern aufgewachsene und gehaltenen Hunde, die sehr oft bissige oder nach menschlichen Maßstäben „schwierige Hunde“ werden!

Weiterhin ist das soziale Umfeld, insbesondere mit unkontrolliert geführte Rivalitäten bzw. in Konfliktsituationen mit Artgenossen zu benennen.

Ebenso ist das soziale Gefüge, indem ein Hund lebt – auch zum Zeitpunkt des Übergriffes- wie z.B. Tötung eines Menschen oder Tieres bzw. bei schwerer Körperverletzung, maßgeblich mitentscheidend.

Daran muß sich zwingend die fachlich notwendige Begutachtung anschließen, wie es überhaupt zum Vorfall kam- hinsichtlich des Auslösers, welche Eskalationsstufen oder Drohsignale gezeigt wurden- etc. Außerdem: Welche Signale davon in der Konflikt-situation – von wem auch immer – ignoriert wurden. Zuletzt auch mit der Frage, ob über menschliches Eingreifen, das „Faß zum Überlaufen“ gebracht wurde ? Leider fehlt es häufig an der Analyse und der Vorgeschichte zum Beißgeschehen, was fachlich unhaltbar ist!

Ferner gibt es Mensch- Hund -Beziehungsgeflechte, die ein hohes Gefährdungspotenzial darstellen und einem anderen „Restrisiko“ zuzuordnen sind als etwa die Größe eines Hundes oder dessen Beißkraft. Zu betonen ist, daß dieselben Hunde, z. B. mit auffälligen und problematischen Entwicklungen, bei einem anderen Hundehalter völlig andere und auch unauffällige Verhaltensmuster zeigen können.

Das Mensch- Hund- Team nimmt auch eine hervorragende Stellung ein, in der Fragestellung, ob von diesem besondere Gefährdungspotentiale entstehen können.

Meist ist Menschen nicht bewußt, daß bestimmte Hunde ein ambivalentes Verhalten speziellen Menschen gegenüber zeigen können , was bedeutet, daß Hunde sowohl mit diesem Menschen konkurrieren wie auch mit diesem konkurrieren können, was eine verhaltenstypische Caniden-Eigenschaft darstellt. Begreift der Mensch diesen Zusammenhang nicht und manipuliert diese zwei Pole etwa noch gewaltsam, so kann dies durchaus zu einem inadäquaten Aggressions-verhalten beim Hund führen.

Weiterhin sind (für den Hund unberechenbare und/ oder unkontrollierte) menschliche Stimmungsschwankungen und deren Übertragung auf den Hund nicht zu unterschätzen: Insbesondere, wenn der Hund diese überhaupt nicht mehr ein- bzw. kontextbezogen zuordnen kann und ihm damit auch die Sicherheit im Sozialgefüge mit seinen Menschen geraubt wird!

Somit betonen Hunde-Experten und Wissenschaftler immer wieder die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeiten hinsichtlich des Gefahrenmoments bestimmter „ Mensch- Hund- Konstellationen“, welches einen bestimmten Hund gefährlich werden lassen kann.

Hier ist auch keinesfalls nur an Mensch- Hund- Teams aus dem „Milieu“ zu denken oder an Hunde, die einem „Hyperaggressionsdrill“ unterworfen wurden!

Wie agieren faktisch „Gefährliche Hunde?“

Dies kann sich insbesondere auch durch unvermittelte Angriffe bzw. Beißattacken äußern, die nicht durch das Ausdrucksverhalten in Etappen kommuniziert werden, also ohne Einhaltung der vorgenannten sechs Eskalationsstufen. Dazu gehören auch unberechenbare Verhaltensmuster.

Die ethologischen Zusammenhänge für hundliches Verhalten sind äußerst komplex und unterliegen vielfältigen Zusammenhängen in verschiedenen Situations- und stimmungsabhängigen Kontexten. Damit sind sie ebenso abhängig von Umwelteinflüßen, Sozialpartnern, gesundheitlichen Zusammenhängen oder nicht zuletzt dem aktuellen Stresslevel.

Damit ist nachvollziehbar, daß Definitionen sog. „Gefährlicher Hunde“ per Rasseliste von Landeshundegesetzen und- Verordnungen, fachlich als exorbitanter Unsinn zu tadeln sind!

Rasselisten kriminalisieren nicht nur Hunde bestimmter Rassen in Deutschland bereits von Geburt an – a priori- und stellen sie unter den Generalverdacht der Gefährlichkeit! Dies übrigens geschieht 8oder geschah) auch in Schweizer Kantonen, Österreichischen Bundesländern oder französischen Departements oder auch bis 2008 in den Niederlanden!

…obwohl weltweit wissenschaftlich als anerkannter Standard gilt:
Es gibt keine gefährlichen Hunderassen –jeder Hund kann theoretisch und dies rasseunabhängig und durch verschiedenste Konstelllationen- gefährlich werden und zubeissen.

Gefährliche Hunde – erst durch gesetzliche Auflagen und Restriktionen?

Demzufolge werden diese „Rasselisten-Hunde“ meist mit Maulkorb- und Leinenzwang lebenslänglich traktiert. Dies stellt nicht nur aus Tierschutzrechtlichen Erwägungen eine unzumutbare Härte für die Hunde dar- denn wohlgemerkt- es sind Hunde, die bisher überhaupt nicht auffällig geworden sind!

Vielmehr verkennen Gesetzgeber, daß Hunde, die über Maulkorb- und Leinenzwang nur äußerst eingeschränkt ihr Kommunikationsrepertoire mit anderen Hunden einsetzen und trainieren können, hierdurch über Kommunikationsmissverständnisse erst gefährlich werden können und in vielen Fällen dadurch gefährliche Situationen erst entstehen. Dies mit der fatalen Folge, diese ( Beiss)- Vorfälle dann den Hunden angelastet werden.

Fazit

Rasselisten fördern sogar Beißvorfälle, da sie verhindern, daß Hundehalter und Bürger sich für den Sozialpartner Hund ( per Gesetz verordnet) qualifizieren müssen! Darin nämlich, Hunde in ihrem Ausdrucksverhalten, ihrer Vokalisation, kurzum in ihrer gesamten Verhaltensbiologie durch profundes Fachwissen verstehen zu lernen!

Das Ausdrucksverhalten von Hunden ist in den Grundstrukturen genetisch fixiert. Allerdings muss es in fein-nuancierten und differenzierten Abstufungen – nennen wir es „Fine- tuning“ – nicht nur im Prägungslernen- erlernt und verfeinert werden.

Hunde benötigen- genau wie wir als Menschen- lebenslänglich Kommunikationsübung und Erfahrungen im Umgang mit der entsprechenden Art- aber auch in der „artübergreifenden Kommunikation“ Hund- Mensch!

Mensch- und Hund im wechselseitigen Dialog heißt:
Lernen im „Hund- Mensch-Team- und dies lebenslänglich!

Es bedeutet für uns aber auch:
Zuhören, Beobachten, Schweigen und Reflektieren!

Nur so kann Kommunikation gelingen!

Gewalt seitens des Menschen gegenüber unseren Hunden ist stets ein Zeichen dafür, daß es an Wissen und Gewissen fehlt!

Gez. Dr. Barbara Wardeck-Mohr